Hans Joachim Müller (Freiburg)

Rede zur Eröffnung der Ausstellung Ulrich Gehret – Karl Manfred Rennertz
im Haus der modernen Kunst Staufen 22.1.2016, Hans Joachim Müller, Freiburg.

Manchmal hat man doch wirklich den Eindruck, liebe Freunde, der Manfred Kluckert macht das extra. Hat seinen Spaß dran, sich Leute ins Haus zu holen, Künstler, die sich nicht kennen. Setzt den einen ans eine Tischende und den anderen ans andere, und wartet mal ab, was passiert. Ob sie sich was zu sagen haben. Ob sie ein höfliches Gespräch beginnen oder höflich schweigen Ob sie noch ein bisschen fremdeln oder gleich guter Dinge sind. Ja, und wir sollen mit am Tisch sitzen und für gepflegte Unterhaltung sorgen. So ist das wieder mal. Schauen wir halt, wie’s wird.

Den Ulrich Gehret kennen wir ja schon. Er ist sozusagen ständiger Gast hier im Hause. Wenn man sich unten im Lager umschaut, dann stößt man da und dort auf eine Arbeit von ihm, kleinere und größere, die aber alle gleich schwer erscheinen. Das fällt ja immer gleich auf bei diesen Bildern, wie sie in ihren Stahlrahmen verpackt sind, buchstäblich eingeschweißt, als bräuchten sie Halt, Disziplin, strenge Bewachung, weil ihnen vielleicht eine Neigung innewohnt, weiter wachsen zu wollen, zu wuchern, sich zu verlieren, unendlich zu werden, unabschließbar – wie ein Roman, der nicht fertig wird, nicht fertig werden kann.

Gehrets Liebingsbuch ist Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“. Er kann ganze Passagen auswendig zitieren. Und wie wir wissen, ist der Mann ohne Eigenschaften ja nicht nur ein Mann ohne Eigenschaften, sondern auch der treibende Held auf dem Meer einer unendlichen Geschichte ohne Horizont, ohne Ufer. Anders bei Gehrets Bildern: Was immer auf ihnen dahin treiben mag, sie haben alle ihre begrenzenden Horizonte, ihre stählernen Ufer.

Da horcht der Karl Manfred Rennertz auf. Das mit den Rahmen scheint ihn zu interessieren. Denn bei ihm gibt es nie, fast nie Rahmen, nur offene Räume, die seine Arbeiten umgeben wie etwas Weiches, Fluides, Durchscheinendes, das sich um die harten, kantigen, splittrigen Formen seiner Holzskulpturen schmiegt. Sie kommunizieren nicht mit den Räumen, in denen sie auftreten, definieren sich nicht durch ihre Umgebung, sie sind einfach da – mit starker Selbstverständlichkeit – wie ein Baum in der Landschaft, der ihnen das Holz geliehen hat, aus dem sie geschnitten, gesägt und gehauen worden sind.

Körper aus kegelartigen Segmenten. Kakteenähnliche Gebilde, als hätten Opuntien ihre Stacheln verloren und dafür alles Runde aufgegeben und spitze, zahnige Silhouetten wachsen lassen. Keilartige Schnitte, die eine Gesichts- oder Körperform in grobe Segmente spalten. Köpfe, durch die die Linien wie Blitze zucken. Schalen, Bootsrümpfe. Man kann Karl Manfred Rennertz’ Arbeiten ziemlich genau beschreiben. Was an ihnen zu sehen ist, ist zu sehen. Mehr ist nicht.

Weniger ist auch bei Ulrich Gehret nicht. Nur dass sich seine Bilder kaum oder nur schwer beschreiben lassen. Und ob, was man sieht, schon alles ist, was man sehen könnte, weiß man nie. Und wofür es keine Worte, keine passgenauen Begriffe gibt, dafür gibt es allenfalls Metaphern. Zuweilen hängen diese krustigen Farbkörper an der Wand, so kommt es einem vor, wie ein totes Tier auf der Strasse liegt. Immer geht es in diesem Werk ein wenig diesig zu. Verschattet, verhangen, wie in feine Gazé gewickelt. Und der seidige Glanz, der auf den Bildern liegt, stammt von der Versiegelung der zeichnerischen und malerischen Gründe mit dicken Schichten Paraffin, was ihnen diese seltsam durchsichtig undurchsichtige Anmutung gibt. Als ob sie im Erscheinen und im Verschwinden zugleich begriffen wären.

Es ist doch schon ganz schön lebendig geworden am Gästetisch. Ulrich Gehret dreht das Glas in der Hand. Und es ist wieder so, als ob er etwas sehen könnte, was wir nicht sehen können. Karl Manfred Rennertz macht eine ausholende Bewegung mit dem ganzen Arm, wie er sie eben macht, wenn er vermummt und im Overall des Waldarbeiters das Atelier betritt. Immer geht er direkt aufs Material zu – oder besser: geht buchstäblich auf das Holz los.

Es hat etwas von der Attacke, wie er, bewaffnet mit der Kettensäge, sich an seinen Holzblöcken zu schaffen macht. Das darf man sich freilich nicht als wüste Formenerzwingung vorstellen. Karl Manfred Rennertz ist ein überaus behutsamer, sensibler Holzbildhauer, der sehr genau weiß, was er seinem gewachsenen Material zutrauen, was er ihm zumuten darf, und der keiner Form wirklich Gewalt antut. Es ist, wie wenn man einen Rinderbraten gegen die Fasern schneiden wollte. Das wird nix. Und so lässt sich Rennertz’ Kettensäge auch immer von dem führen, was wie geheime Regie in den Holzblock eingeschrieben ist. Und dabei entstehen Figuren und nichtfigürliche Objekte, die die Kräfte, die auf sie eingewirkt haben, wie eine Energie in sich tragen und sie als hochexpressive Sprödigkeit abstrahlen. Das erinnert in der Verve und in der stupenden Sicherheit, zumal seit den achtziger Jahren, an das Allegro vivace, wie es die „Brücke“-Malerei der Jahre 1907-1910 Jahren vorgab.

Das nun wiederum gefällt dem Ulrich Gehret außerordentlich gut, wie der Kollege so ganz ohne Bauanleitung ans Werk geht, wie er ein bisschen zeichnet und die Einschnittstellen auf dem Holz markiert, aber ganz ohne Konstruktionsüberlegungen seine Ideen und Vorstellungen realisiert. Er selber macht es ja nicht anders. Man hat ihn zwar gelegentlich sagen hören, er wolle noch dieses oder jenes Bild machen, aber er hat noch nie sagen können, wie er zu diesem oder jenem Bild gekommen ist.

Irgendetwas ist es, was ihn beschäftigt, was ihn angeht, was ihm nicht mehr aus dem Kopf geht. Ein Holz- oder Metallstück, eine Zange, ein ausgeschnittenes Fell, eine Schlangenhaut, ein Gitter, in dessen Maschen sich das Farbpigment wie der Honig in der Wabe sammelt. Und immer ist es so, als seien die Dinge schon einmal im Gebrauch gewesen, als seien Zeit und Geschichte über sie hinweggegangen, hätten sich angelagert an sie – wie Muschelkolonien am Kiel eines Bootes.

Ulrich Gehret ist ein rechtschaffener Krümler, der in seinen Lagern herumkriecht und herumscheppert, dass die Stahlrahmen, die an den Wänden lehnen, in Schwingung geraten, und man Angst bekommt um Leibeswohl und Unversehrtheit des Künstlers. Und wie er so auf der Pirsch ist im Untergehölz seines Vorrats, entstehen seine Bilder, wachsen buchstäblich zusammen. Es ist wie bei der alten Technik der informellen Malerei, die ja auch mehr geschehen ließ, als dass sie einen Bauplan ausgeführt hätte.

Und wenn man sich dann an die Vorhänge und Nebelbänke gewöhnt hat, hinter denen die Dinge glimmen, flirren, flackern wie im Reich der Schatten, dann entdeckt man auch, wie die Farbe da und dort streifig geflossen ist, man sieht die zeichnerischen Partien, die versteckten Motive, die wie abgesunken wirken, durchgebrochen durch alle Weltschichten und wie aus großer Tiefe heraufgeholt. Ein bisschen Urgrund, Urschlamm, so hat es den Anschein, ist immer mit eingerührt in die Bilder des Ulrich Gehret.

Es entsteht jetzt eine kleine Pause am Tisch. Ulrich Gehret sagt nichts. Karl Manfred Rennertz sagt auch nichts. Und man fragt ins Schweigen hinein, ob denn die Kettensäge schon immer im Gebrauch war.

Nein, war sie nicht. Karl Manfred Rennertz’ Frühwerk hat sich noch an realistische Lebensformen gehalten. Es waren bemalte Holzfiguren, die zu Beginn auch Namen trugen, die also durchaus porträthaft gemeint waren. Ein ziemlich witziger Torso hieß „Alfonso Hüppi“, und es war recht virtuos, wie da der gut erkennbare Lehrer zum kuriosen Gnom schrumpfte. Aber das liegt lange zurück. Die Vereinfachungen, Stereotypisierungen kamen nach und nach. Seit Jahrzehnten wirken seine Skulpturen archaisch beruhigt, statuarisch reduziert oder genauer noch: statuarisch temperiert.

Bewegung war nie. Es gab mal ein paar Gliederfiguren, die tatsächlich aus prothesenartigen Einzelteilen zusammengeschraubt waren und als bullige Skiläufergruppe im Schnee standen. Doch dynamisch sah auch das nicht aus. Alles scheint in diesem Werk angehalten, als befinde sich das Holz in Genesung, ließe es sich still gefallen, wie die Verletzungen, die ihm der Form wegen zugefügt wurden, langsam verheilen. Und wenn doch einmal eine Torsion an Bewegung denken lässt, dann ist es eine, die nach innen geht, gleichsam in sich selber versinkt. Und die Bronzen, die nach den Holzbozzetti gegossen worden sind, verstärken den Eindruck nur.

Man muss wissen, Karl Manfred Rennertz hat längere Zeit im ägyptischen Luxor und in Neu-Dehli gelebt und gearbeitet, und das hat nicht ohne Spuren im Werk bleiben können. So hat der Bildhauer bei der Reduzierung der Figur auf das Wesentliche eine Erfahrung nachvollzogen, die die frühe Moderne, die Kubisten vor allem, im ethnologischen Museum gemacht haben. Wobei man sich natürlich fragen darf, was das Wesentliche ist. Die Stammeskulturen zielen mit ihren wie erstarrt wirkenden Figuren ja gerade nicht auf einen Wesenskern, sondern auf etwas Überpersönliches, Überindividuelles. Und weil das auch für das Werk von Karl Manfred Rennertz gilt, kann sich ein Gesichtsoval zur konkaven Hohlform und dann auf einem Grundbrett zum Relief ausbilden, das weder der Natur genügt noch der Geometrie, sondern irgendwie dazwischen schwebt. Und dieses konkave Oval zieht sich im nächsten Schritt ellipsenartig in die Länge und erinnert auf dem Boden an ein Boot, einen Einbaum, an den Schiffsbau, in dem Jason das goldene Fliess transportiert oder an die Barke, in der Dante und Vergil durch den Höllenfluss treiben.

Jetzt aber solltet ihr den Ulrich Gehret sehen. Beim Stichwort Boot springt er auf. Boote kommen ja auch bei ihm immer wieder vor. Jason-Schiffe, Dante-Barken. Er selber hat sich ein Hausboot gezimmert und ist mit ihm ganz allein, wie es sich gehört, den Amazonas rauf und runter gesegelt. Und wenn es nicht der Amazonas war, dann war`s ein anderer Fluss. Zuweilen schimmert so eine Erinnerung in dem einen oder anderen Bild durch. Man tritt näher heran. Möchte mehr sehen. Aber man sieht nicht wirklich mehr. Muss ja auch nicht sein. Gehrets Bilder sind Bilder von Bildern. Bilder aus einem intimen Bilderspeicher, wo die bewussten und unbewussten Anteile ziemlich ungeordnet lagern und sorgsam versiegelt darauf achten, dass sie nichts preisgeben.

Wunderbar, die beiden so am Tisch zu erleben, den Maler mit dem Bunsenbrenner und dem Paraffintopf und den Gefühlsmenschen mit der Kettensäge. Was für ein Gespräch miteinander, untereinander! Ging doch, sag ich doch.

Also viel Vergnügen in der Ausstellung.