Dr. Isabel Greschat

zur Eröffnung der Ausstellung „Moving Woods“
in der Galerie im Prediger, Schwäbisch Gmünd
am 4. April 2003

Kein künstlerisches Material besteht nur aus seinen materiellen Eigenschaften. Das gilt wohl für Holz mehr als für jeden anderen Werkstoff. Holz wird aus Bäumen gewonnen. Mit Bäumen fühlt sich der Mensch verbunden. Vielleicht, weil man in den Baum eine menschliche Gestalt hineinsehen kann (Wurzeln als Füße, Äste als Arme), vielleicht auch, weil der Mensch von den Früchten, dem Holz und dem Sauerstoff lebt, das Bäume produzieren. Wichtiger aber ist: Ein Baum verkörpert Beständigkeit im Wandel, lebendige Kontinuität, Lebensdauer. Deshalb werden Stammbäume als Bäume dargestellt, deshalb wünscht sich Luther, im Alter noch ein Apfelbäumchen zu pflanzen. Deshalb lassen sich in der antiken Sage die beiden Liebenden Philemon und Baucis in Bäume verwandeln, damit ihre Liebe lebendig bleibt und doch überdauert. Selbst wenn ein Baum abgestorben ist, „arbeitet“ sein Holz weiter. Von der Frühzeit des Menschen bis in die deutsche Romantik waren Bäume und Wälder mythisch besetzt, belebt und voller Geheimnis. „Es ist, als ob jeder Baum auf dem Lande zu mir spräche: heilig, heilig“ (Beethoven).

Wenn Karl Manfred Rennertz sich für Holz als seinem wichtigsten, fast seinem einzigen Material entscheidet, dann arbeitet er nicht nur mit dem „lebendigen Material Holz“ (Brancusi), sondern zugleich auch mit dem emotionalen und mythischen Material. Der Künstler ist sich dessen natürlich sehr bewusst. Nicht von ungefähr lässt er seine Figuren gern an dem Ort entstehen, an dem sie ihre neue Heimat finden sollen. Sie sollen im Einklang mit der Atmosphäre des Ortes entstehen und stehen. Sie sollen nicht als Fremdkörper wahrgenommen werden, sondern sich einfügen in einen größeren Organismus.

Die Baumstämme, die Karl Manfred Rennertz geschenkt bekommt (zur kostenlosen Entsorgung), bearbeitet er mit der Kettensäge. Bis vor kurzem war es immer der Kern des Stammes, den er herausgearbeitet und geformt hat. Der Kern als Kraftzentrum. Daraus ließ und lässt er Figuren entstehen, die archaisch wirken (wie die Schattenfiguren), plump und sehr massiv in ihrer Körperlichkeit

Als Versuch, die Idee des Menschen zu finden, dem der Mensch im Baum begegnet – so könnte man Karl Manfred Rennertz Figurationen umschreiben. Man sieht, dass den Künstler dabei die Faszination, die von der Expressivität afrikanischer Skulpturen ausgeht, beeinflusst hat. Deren Deformationen betonen die Leiblichkeit der Figur (man sieht förmlich das Gewicht einzelner Körperteile) und zugleich ihre Geistigkeit: Es sind schließlich Göttergestalten, die überindividuelle Lebensprinzipien wie Fruchtbarkeit, Erdverbundenheit, Weiblichkeit, Menschsein usw. verkörpern. Rennertz’ Gestalten sind diesen Zusammenhängen verbunden.

Wenn Karl Manfred Rennertz einen Baum mit der Kettensäge bearbeitet, fühlt er, wie er erzählt, die kraftvolle Schwingung des Stammes. Diese Energie überträgt er in seine Gestalten. Deshalb sind die Figuren nicht nur plump und unbeweglich, sondern auch spannungsvoll bewegt, dynamisch und stellenweise sogar elegant. Das ist eine sensible Gratwanderung zwischen Dynamik auf der einen und Schwere, Beharrung, Erdung auf der anderen Seite, die sich in den Figuren findet.

In der letzten Zeit ist es statt des Kerns eher die Hülle, die Karl Manfred Rennertz interessiert. Die Ausstellung zeigt das deutlich: Sie sehen das Boot, das man zugleich als Schale deuten kann oder als weibliches Sexualorgan, Sie haben die zweiteilige Wandarbeit mit einer Positiv- und einer Negativform. Am deutlichsten zeugen die Masken und die zwei Schattenfiguren davon. Es ist nun nicht mehr die Mitte, die die Kraft der Figuren ausmacht, sondern die Spannung, die sich zwischen zwei aufeinander bezogenen Formen entwickelt. Wie die Wandarbeit aus der Dialektik von Innen und Außen lebt, so sind auch die Schattenfiguren aus der Vorder- und der Rückseite eines Baumstamms gebildet. Sie sind ein Mann und eine Frau. Damit erinnern sie an die altgriechische Vorstellung, der Mensch sei wie eine Halbkugel auf der Suche nach der andersgeschlechtlichen komplementären Seite der Kugel, mit der zusammen erst sich der einzelne ganz fühlen kann.

Innen sind die Figuren ausgehöhlt. Karl Manfred Rennertz sagt, er wollte den Schatten einer Gestalt bilden: „Hat ein Schatten eine Gestalt?“ fragt er. Der Schatten ist ähnlich auf eine Form, also auf ein Etwas bezogen wie eine Schale auf ihren Inhalt. Schatten und Schale sind geformte Materie, und doch nur Abglanz und Hülle der eigentlichen Gestalt, die im Verborgenen bleibt, die (sozusagen) ausgesprochen-unausgesprochenes Geheimnis bleibt. Zudem hat der Künstler die Figuren geschwärzt. Und zwar geschwärzt, indem er sie angezündet und angebrannt hat. Die Figuren brannten lichterloh, aber regelrecht verbrennen kann man solch massive Holzklötze kaum. Man kann sich vorstellen, wie eindrucksvoll so eine gigantische Figur brennend aussieht: schön, leuchtend, machtvoll und gefährlich.

Es geht dem Künstler dabei nicht nur darum, dass die Skulpturen schwarz aussehen sollen. Rennertz fügt nicht einfach eine Farbe hinzu. Das Holz hat vielmehr eine Verwandlung durchgemacht, es ist regelrecht durchs Feuer gegangen. Die Figuren bleiben zurück als Gezeichnete.

Wichtig erscheint mir, dass Energie – und zwar loderndes Feuer, also Energie in höchster Konzentration – die Figuren nicht zu zerstören vermochte. Es transformiert sie.

Das Thema der Form-Verwandtschaften und Verwandlungen begegnet uns in Karl Manfred Rennertz’ Werk insgesamt wie ein roter Faden. Viele seiner Menschenfiguren sind genauso plausibel als pflanzliche Gebilde zu deuten. Die Masken erzählen schon qua Motiv von der Kunst der Verwandlung. Das Boot changiert, ich erwähnte es, zwischen der Deutung als Boot, als Schale, als Vulva, und tritt in Beziehung zu den drei Wandarbeiten. Die Säulen („Lichtentaler Allee“) ihrerseits erscheinen als Zwischenformen zwischen architektonischen und organischen Elementen, sie wirken gleichzeitig gebaut und gewachsen. „Keinem bleibt seine Gestalt“, heißt es in Ovids Metamorphosen, und Ovids Protagonisten verwandeln sich in Bäume und andere Formen. Rennertz’ Bäume verwandeln sich in Figuren und seine Figuren in Schatten und anderes.

Ebenso wie von der Mehrdeutigkeit der Formen leben Rennertz’ Skulpturen aus Gegensätzen. Organisch Gewachsenes steht geplanter Architektur gegenüber, um nochmal auf die „Lichtentaler Allee“ zu kommen. Das Organische trifft aber auch auf kristalline Strukturen, wie sie im „Kristall“ zu sehen sind. Das Innen steht in Spannung zum Außen. Plumpe, schwere Leiblichkeit steht fragilen Elementen gegenüber, konkave Formen ihren konvexen Pendants. Der auffälligste Gegensatz betrifft aber die Farbigkeit. Den größten Kontrast zur Schwärzung durch Feuer fand Karl Manfred Rennertz im Auflegen von Gold. Echtes Blattgold, das wertvollste und strahlendste Material, legt er in hauchdünnen Platten auf die Holzoberfläche und streicht es darauf fest. Das Gold verbindet sich nicht mit dem Holz, es bleibt äußerlich, wie ein Schmuck, der den Skulpturen umgelegt wird. Oder wie ein reizvolles Gewand, das einen Körper umschließt. Wie eine Hülle.

Farbigkeit spielt für Rennertz Figuren überhaupt eine große Rolle. Manchmal denke er, so sagt er, dass er seine Skulpturen eigentlich nur gemacht habe, um sie bemalen zu können. Schwarz und Weiß sind dabei besonders wichtig, mit diesen Farben wird die plastische Form akzentuiert. Daneben ist es vor allem das Rot, das immer wiederkehrt. Rot ist der zweite große Kontrast zum Schwarz, die Farbe der Lebendigkeit und der Energie, wohl auch deshalb, weil keine andere Farbe eine so breit gefächerte Palette an Farbdifferenzierungen und –klimata zulässt. Die differenzierte, malerische Farbigkeit und besonders die Rottöne betonen Rennertz’ Hang zur Sinnlichkeit und noch einmal sein Interesse am Verhältnis von Oberfläche zum Volumen. Die rote Farbe entspricht natürlich auch dem Feuer. In den Flammen scheint die ganze Palette der möglichen Rottöne auf. Das Feuer ist als immaterielle Energie und in seiner Flüchtigkeit wohl der größte Gegensatz zur Dauer verkörpernden Materialität des Holzes. Karl Manfred Rennertz addiert die Gegensätze nicht nur, er lässt sie miteinander agieren, und dadurch etwas Neues entstehen.

Karl Manfred Rennertz ist mit seinen Skulpturen einen langen und doch schließlich folgerichtigen Weg gegangen. Zu Beginn seiner künstlerischen Laufbahn formte er sehr präzise, sehr naturalistische Porträtfiguren. Damit war er einer der ersten, noch vor Georg Baselitz, die die menschliche Figur nach Jahren der Abstraktion wieder in die Bildhauerei eingebracht haben. Gemeint war zunächst der einzelne, individuelle Mensch. Nach einigen Jahren wurden seine Figuren abstrakter. „Es gab eben keine Leute mehr, die Porträtskulpturen bestellten“, erklärt der Pragmatiker Karl Manfred Rennertz. Wir dürfen annehmen, dass es noch andere genauso zwingende Gründe gab: Dass sich nämlich das künstlerische Interesse dem Menschenbild genereller zuwandte. Schließlich formte der Künstler neben der Figur auch andere Dinge, wie jetzt das Boot. Sie existieren jedoch nur in Beziehung zur Figur, denn sie zeigen, dass der Mensch mit allen Dingen und Formen verbunden ist. Ich denke, dass Karl Manfred Rennertz mit dieser Entwicklung vor allem auch dem Material Holz in seinen nicht-materiellen Eigenschaften und Inhalten nachspürte und diesen Inhalten eine Form zu verleihen versuchte.

Bei allem Assoziations- und Bedeutungsreichtum haben Rennertz’ Skulpturen überhaupt nichts Angestrengtes. Man sieht ihnen eine fast unbefangene Experimentierlust an. Das Boot etwa ist auch aus einer kindlichen Schaffens- und Abenteuerfreude heraus entstanden. Der Künstler strahlt, wenn er erzählt, dass es tatsächlich schwimmen kann.

Er hat es übrigens auch schwimmen lassen, letztes Jahr auf einer Ausstellungseröffnung auf dem Burggraben des Chateau de Vaudrémont, lichterloh brennend.

So trafen sich mühelos, fast spielerisch alle vier Elemente – Feuer, Wasser, Luft und Erde (Baum, Goldbemalung) – in einem Bild, das ebenso Flüchtigkeit wie Dauer hat. Wenn komplexe Zusammenhänge sich in einfachen Bildern verdichten, haben wir das Gefühl, von einem Stück Wahrheit berührt zu werden.