Pit Klein

Vor der Baden-Badener Villa Leonore stand ein Mammutbaum. Er war ungefähr einhundertzwanzig Jahre alt. Vor vielleicht einem Jahr ist er abgestorben. Ganz genau kann man das bei Bäumen nie sagen, denn Bäume sterben aufrecht. Das nennt man absterben. Menschen sterben sehr selten aufrecht, sondern sterben richtig. Der Mammutbaum wurde gefällt und lag da, sehr lang und sehr dick. Karl Manfred Rennertz sah ihn sich lange an. Dabei entstand in seinem Kopf ein Bild. Das zeichnete er schwarz auf weiß auf ein riesiges Blatt Papier, legte sich die Skizze in seinem Gedächtnis zurecht, schnitt den Stamm oben und unten glatt ab, trennte ihn in der Mitte in Längsrichtung durch und erhielt zwei gewaltige Mammutbaumhälften. Sie waren gute fünf Meter lang und auch als Hälften noch ziemliche Ömmesse. Rennertz stammt aus Langerwehe. Das ist eine kleine Ortschaft südlich von Venlo, östlich von Liege, nördlich von Monschau und westlich von Köln. Dort versteht man sich als Rheinländer und spricht auch so. Ein riesiger Felsbrocken, eine gigantische Bronzefigur, ein massiger Tonklumpen, ein langes und schweres Holzstück oder auch ein sehr dicker und sehr großer Mensch sind schlicht ein Ömmes. In die Innenseiten der beiden Mammutbaumhälften sägte und schlug Rennertz je eine Figur. Er formte sie hinein, nicht heraus. Er bildhauerte sie konkav, nicht konvex. Den Innenraum dieser abstrakten Figuren machte er mit Gasflamme schwarz, er überzog sie gewissermaßen mit einem Schatten. Dann ließ er sie für die Ausstellung Schwarzwaldhochstraße in der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden auf die Beine stellen und nannte sie Figur im Baum.

Eigentlich sind es zwei Figuren, aber Rennertz ist da wiederum rheinisch und nimmt das nicht so genau. Bei Licht besehen hat die eine Figur hängende Schultern und hängende Hüften und könnte ein Schattenmann, und die andere Figur hat steigende Hüften und Schultern und könnte eine Schattenfrau sein. Eine Frau ist auf jeden Fall dabei, denn die meisten Figuren von Karl Manfred Rennertz sind Frauen, die sind ja auch schöner.

Als Rennertz nach Schloß Vaudremont kam, war der Baum, auf den er hätte treffen können, nicht mehr unter den Aufrechten. Aber er war nicht abgestorben, ein Orkan hatte ihn umgelegt. Jener Ömmes von Sturm, den die Deutschen Lothar nannten, hatte ihn einige Meter oberhalb der Wurzeln abgedreht, hatte ihn aus seinem mächtigen Standbein gezogen wie den Korken aus der Flasche. Das war gegen Ende des vorigen Jahrtausends. Bis dahin hatte die Sumpfzypresse den Schloßgarten beherrscht, und schon auf alten Zeichnungen hatte sie auch das Schloß überragt. Als Rennertz in die Champagne bei Colombey-les-2-Eglises kam, lagen ihm die große Sumpfzypresse und kleinere Bäume von derselben Sorte bereits als Material zu Füßen. Hier, das wußte er, kriegste andere Bäume, da klingt es anders, die riechen gut.

Henry Moore hat einmal gesagt: Holz ist ein natürliches, lebendiges Material. Und kaum waren die Worte dem Gehege seiner Zähne entflohen, da wußte der große Moore, daß er ein Zitat geschaffen hatte. Er würde zitiert werden wie Homer. Dabei hat er keineswegs nur recht, der große Meister. Ein Förster kann ihm sagen, daß der Lebenssaft des Baumes durch die Rinde fließt. Ist der Baum entwurzelt, gefällt und geschält, dann ist er Holz, und Holz ist nicht mehr lebendig, sondern mehr oder weniger tot. Aber er hat natürlich auch recht, denn es gehört zur Natur der Kunst, daß sie totes Material zum Leben erwecken kann, zu neuem Leben. Es ist auch eine Kunst, tote Worte zitierfähig zu machen,aber es ist auch eine Gefahr, stets zitierfähig daherzukommen. Dieser Gefahr weiß der Mann aus Langerwehe mit schlichtem Gemüt zu entgehen. Holz gibt es genug, immer noch. Und Steine sind schwer zu bewegen. Bevor das Holz auf der Müllkippe landet, kann er was draus machen. Als er Meisterschüler bei Alfonso Hüppi war, hat er realistische und detailgetreue Holzportraits gemacht. Er machte Holzskulpturen vor Baselitz und allen anderen. Die Leute riefen bei ihm an und sagten machen sie mir mal meine Frau in Holz. Außerdem ist Holz, das der Kunst gedient hat, noch nützlich. Die Späne, die beim Kunstsägen fliegen, kann man im Garten ausbringen, das Abfallholz nährt das wärmende Feuer. Brennt gut. Karl Manfred Rennertz kommt aus einem Töpfereibetrieb. Als er sich an Holz annäherte, hatte er keine zitierfähigen Vorstellungen, wollte nicht in den Kreislauf der Vergänglichkeit eingreifen: Baum ab, Holz zu Asche, alles weg. Die Grünen gab es damals noch nicht. Also kein Zitat: Den Baum als Skulptur der Nachwelt erhalten. Der junge Rennertz hat mit Stein, Gips, Bronze und so weitergearbeitet. Auch mit Ton, aber Ton war ihm eigentlich immer zu weich.

Gott schuf den Menschen aus Lehm, aber Ton war dem Rennertz immer zu weich.

Rennertz hatte an der Düsseldorfer Kunstakademie hervorragende technische Lehrer. Bei denen hat er sein Handwerk gelernt. Er kann sogar das Schweißen, nicht unbedingt wie sein Kollege Eberhard Eckerle, aber so normales Aneinanderbraten, das geht schon. Brauchste auch, wenn du Ton aufbaust. Da ist immer ein Stahlgerüst drunter. Der künstlerische Lehrer, der Professor Hüppi, war dann fürs Diskutieren. Diesem Hüppi ging es darum, seine Studentinnen und Studenten zu sich selbst zu führen, und wenn er in den Notizen von Rennertz liest: Auge und Phantasie ziehen alles Bewegte um mich herum zu einem Bild zusammen, es ist in mir, ganz mein Bild, subjektiv, wenn er das liest, schnurrt ihm das Hirn vor Wohlbehagen, und sein Herz spielt in Dur auf der Ziehharmonika. Niemandem, der bei Hüppi gelernt hat, sieht man den Hüppi an. Sie sind alle bei sich selbst gelandet und geblieben. So auch der Rennertz. Als er von Holzhammer und Stechbeitel auf Kettensäge und Axt kam, vom Realismus auf die Abstraktion, da war das einfach deshalb, weil keiner mehr anrief und seine Frau in Holz haben wollte oder sein Kind als hölzernen Roboter. Und das Schwarz bescherte dem Rennertz seine Große Nordhornerin. Sie stand auf einem Fundament, neben einer Bushaltestelle, in der kleinen Stadt Nordhorn. Die liegt östlich von Almelo, nördlich von Ochtrup, südlich von Wietmarschen und westlich von Lingen. Die Menschen dort sind kaum rheinisch, und einige von ihnen mochten die große Frau aus Holz nicht. Sie fielen eines Nachts über sie her und schleiften sie samt Sockel in den Wald. Dort übergossen sie das Weib mit Altöl und zündeten es an. Aber die Große Nordhornerin überlebte den Scheiterhaufen. Die Brandspuren hatten lediglich ihre Bemalung verändert. Sie war jetzt fast überall schwarz, schwarz wie die Nacht, in der sie gebrannt hatte, schwarz wie der Schatten, den sie dabei warf. Rennertz kam eine Idee: Er malte zwar weiterhin seine Skulpturen ultramarin blau und satt rot und grell weiß und glühend orange an, er beklebte sie weiterhin mit Blattgold, aber er rückte einigen von ihnen auch mit dem Gasbrenner auf die Pelle und machte sie schwarz, hüllte sie in den Schatten ein, den sie sonst nur von sich warfen. Und Rennertz stellte fest, daß der Schatten sie schützte. Es gingen keine Schädlinge an sie dran. Auch Sonne und Regen setzten ihnen nicht so zu wie den bemalten Holzgenossen. Sie mußten also nicht mehr unbedingt zuhause bleiben, sondern konnten auch mal an die frische Luft gehen. Und noch etwas: Rennertz begann darüber nachzudenken, ob ein Körper nicht nur einen Schatten wirft, wenn Licht auf ihn fällt, sondern ob er nicht auch einen Schatten hat, den er immer bei sich trägt. Andersrum: Hat ein Schatten einen Körper? Und wie stellt man das bildhauerisch dar?

So kam Karl Manfred Rennertz nach Schloß Vaudremont. Er erfuhr: Die Geschichte von dem Schloß ist illuster. Marlene Dietrich und Jean Gabin haben hier geflirtet. Die Dietrich und Jang Gabäng. Er sah: Die Champagne ist weißer Kalkstein und grün, im Sommer wie im Winter. Nicht so bedrückend wie die Eifel Richtung Belgien und das Bergische Land jenseits des Rheins. Er schuf: Die Dokumentation einer Arbeitszeit in der Champagne. Immer Sonne, immer unter Bäumen in der Allee. Lichtspiele, Schattenspiele. Er hörte: Kirchenglocken, den TGV, der in der Ferne vorüberfuhr, Hunde bellen, den Trecker, der die Bäume aus dem feuchten Gelände zog und Vogelgezwitscher, immer wieder Vogelgezwitscher. In der Nähe gibt es das Haus noch, in dem Auguste Renoir sein Atelier hatte. Rennertz hatte das Gefühl, eine impressionistische Situation zu erleben, eigentlich, er fühlte sich da eingebunden. Und der Monet mit seinen Seerosen muß auch sowas gefühlt haben.

Aber das kann natürlich einen strengen Kunsthistoriker nicht beeindrucken.

Aus dem Holz eines Baden-Badener Tulpenbaums sägte und schlug er ein Boot. Hatte er noch nie gemacht, aber es schwimmt. Das freut ihn am meisten. Es schwimmt im Burggraben, und Seerosen aus Sumpfzypresse liegen im Schloß aus. Tulpenbaumholz ist hart, das Holz der Sumpfzypresse weich. Es spritzt. Beim Sägen braucht man einen Scheibenwischer für die Brille. Die Axt richtet nichts aus. Das Holz hält den Hieb durch Nachgeben auf. Der Stumpf der entkorkten Schloßzypresse, die auf alten Zeichnungen schon das Schloß überragte, steht jetzt, efeuüberwuchert, wie eine Caspar-David-Friedrich-mäßige Ruine da. Aus ihrem entkorkten Stamm erarbeitete Rennertz Schattenmann und Schattenfrau. Sie sind, anders als das Schattenpaar in Baden-Baden, deutlich als Frau und Mann zu erkennen. Sie sind auch nicht, wie die in Baden-Baden, nur Schatten, sondern auch Körper. Schattenfrau und Schattenmann von Vaudremont sind der Versuch, Schatten als Körper abzubilden. Bevor Rennertz die Stammstücke, denen sie entstammen, aufrichtete, hatte er ihr Abbild schon im Kopf. Das übertrug er mit schwarzer und weißer Farbe auf die stehenden Stämme. Karl Manfred Rennertz richtet so gut wie alle gefallenen Stämme wieder auf. Er läßt sie nicht einfach liegen. Er gibt ihnen Gelegenheit, sich mit ihm zu messen. Sie klingen, wenn sie stehen, sie schwingen. Wenn Rennertz einen Fehler macht, dann können sie umfallen. Und so ein Ömmes kann einen schon erschlagen. Viele Fehler macht er offensichtlich nicht. Er lebt ja noch. Bevor er sägt, denkt er ganz lange nach. Es dauert oft länger, bis die Leiter steht, als es dauert, den Schnitt zu machen. Die Schattenfrau hat er von außen nach innen erschaffen. Vom Körper auf seinen Schatten zu. Das war eine ungünstige Richtung. An der hab ich geknabbert.

Außerdem hat er sie durchbrochen. Das macht er sonst nie. Seine Figuren sind standfeste Schwebende, lodern zum Himmel, feingliedrig Gesägte, haben einen festen Kern, sind kykladisch lebendig, haben, wenn es das in den Augen des strengen Kunsthistorikers geben kann, etwas von einem Augenblick hölzerner Ewigkeit. Aber sie sind nicht durchbrochen. Die Schattenfrau von Vaudremont hingegen ist es. Rennertz hat das Weib vielfach durchbrochen, aber ist das der Durchbruch? Er hat an ihr gesägt, geaxtet und geknabbert. Das Knabbern war das Schwierigste. Sägen ist eine extrem berechnete Sache, sieht wild aus, ist aber Ausdruck höchster Beherrschung. Gute Freunde dürfen ihn deshalb die Säge nennen. Er ist höchst beherrscht. Er war es, als seine beiden Kinder noch an ihm herumkletterten, und er ist es, wenn sie auch heute noch an ihm rumnerven. Er nimmt es gelassen, wenn er, wohlriechend nach Zypressensaft, heimkommt und Frau Suzanne sagt: Du mußt unter die Dusche.

Er war jahrelang Meßdiener in Langerwehe. Dennoch ist für ihn das Katholische in Ordnung.

Beim Schattenmann von Vaudremont hat er die Richtung gewechselt. Ihn hat er sich von innen nach außen erarbeitet. Vom Schatten auf seinen Körper zu. Da mußte er nicht knabbern.

Erst hat er den faulen Kern rausgeholt, und da sah es schon ein bißchen nach Matisse aus. Und jetzt ist alles fertig und sieht aus, wie es aussieht. Und es sieht gut aus. Karl Manfred Rennertz hat sich zwar in eine impressionistische Situation eingebunden gefühlt, und die Bilder des Impressionisten Renoir flimmern, aber er, Karl Manfred Rennertz, hält mit dem Ausdruck höchster Beherrschung und mit Schwarz wacker dagegen.