Christoph Kivelitz

Bei Karl Manfred Rennertz steht Holz als künstlerisches Material im Vordergrund. Holz als organisch gewachsener Werkstoff ist in idealer Weise geeignet, die von ihm aufgeworfenen künstlerischen Fragestellungen zu veranschaulichen. Dabei lässt Rennertz seine Figuren gern an dem Ort entstehen, an dem sie ihre neue Heimat finden sollen. Im Einklang mit der Atmosphäre des Ortes sollen sie nicht als Fremdkörper wahrgenommen werden, sich vielmehr einfügen in einen sinnhaften Gesamtzusammenhang. Die Topographie und deren Geschichte fließen in den Arbeitsprozess und das gestaltete Objekt ein. Im Hinblick auf den Standort des Industriemuseums wird so etwa die Spannung von Mensch und Industrie, Natur, Technik und Kultur sinnfällig.

Rennertz geht bei seiner bildhauerischen Arbeit zunächst von einer Skizze seiner Werkidee auf Papier aus, um diese zeichenhaft auf die Baumstämme zu übertragen und dann mit Axt und Kettensäge aus dem Material herauszuarbeiten. Wenn Karl Manfred Rennertz einen Baum mit der Kettensäge traktiert, fühlt er nach eigener Aussage die kraftvolle Schwingung des Stammes und nimmt diese im weiteren Verlauf der Arbeit dialogisch auf. Deshalb erscheinen die Figuren nicht nur plump und unbeweglich, sondern auch spannungsvoll bewegt, bisweilen gar elegant geschwungen. Hier vollzieht der Bildhauer eine sensible, immer gefährdete Gratwanderung zwischen Dynamik auf der einen und Schwere und Beharrung auf der anderen Seite. Es vermittelt sich eine Austauschbeziehung zwischen der Struktur des gewachsenen Holzes und der dem Stamm eingezeichneten Konzeption der zu fertigenden Skulptur. In diesem Prozess kommt es zu einer schritt weisen Annäherung. Abschließend werden die Figuren durch Farben akzentuiert oder durch Feuer geschwärzt.

Neben aufragenden, aus dem Stamm geschälten Figurationen, umkreist Rennertz immer wieder das Thema der Hülle, der Schale oder Negativform, um zwischen zwei aufeinander bezogenen Hohlkörpern ein Spannungsfeld, eine Dialektik von Innen und Außen aufzubauen. Aus der Vorder- und Rückseite eines Baumes treten Schattenfiguren hervor, die in ihrem Erscheinen und Verschwinden Prozesse der Metamorphose, der Verwandlung, Form-Verwandtschaften, Übergangsphänomene anschaulich werden lassen. Rennertz’ Bäume verwandeln sich in Figuren und seine Figuren in Schatten und andere Erscheinungsweisen zwischen Traumgesicht und Wirklichkeit.

Für diese Ambivalenzen steht etwa das Figurenpaar, das – überlebensgroß – den Besucher am Eingang in die Ausstellung empfängt. Nicht ganz klar ist, ob die beiden Gestalten hockend, kniend oder stehend zu betrachten sind. Die Proportionen dieser archaisch anmutenden Wesen, die einer als Sockel fungierenden Baumscheibe entwachsen, sind extrem verzerrt. Wie afrikanische Skulpturen wirken die Objekte roh und ursprünglich. Neben der afrikanischen Tradition lassen sich die Figuren sicherlich auch zurück beziehen auf die Gestaltungsprinzipien des Kubismus. Diesen gemäß fügen sie sich zusammen aus prismatischen Einzelformen, die in ihrem Wechselspiel einen Eindruck von Bewegung und Dynamik aufkommen lassen. Frontalität, Überproportionierung einzelner Glieder im Verhältnis zum Ganzen, in sich geschlossene Unbeweglichkeit kennzeichnen dieses Figurenpaar. Ihre Haltung, ihre Geste, ihre Beschaffenheit arbeiten zugunsten einer Typisierung jeder individuellen Bestimmung entgegen. Offenbar lässt Rennertz sich der Entwicklungslinie des Primitivismus in der modernen Kunst eingliedern. Für Gauguin und später für Picasso, Derain, Brancusi und die deutschen Expressionisten lieferte die Stammeskunst Afrikas und Ozeaniens einen außergewöhnlichen Reichtum an anti-naturalistischen, figurativen Bildern sowie eine Alternative zur akademischen Tradition. Maßgabe für dieses Interesse sind nicht nur Äußerlichkeiten, vielmehr die Rückkehr zur ursprünglichen Einfachheit und die geistige Durchdringung der Formgestalt.

Den Eingang in den Hauptausstellungsraum flankiert ein mit Blattgold überzogenes, teilweise durch Feuereinwirkung geschwärztes Objekt polygonaler Gestalt. Der für die Statik unerlässliche Sockel ist unmittelbarer Bestandteil der Skulptur, gibt ihr auch optisch einen klaren Bezugs- und Ausgangspunkt. Jede Seite ist sowohl in der Ausdehnung und geometrischen Gliederung wie auch durch die aus dem Arbeitsprozess entstandenen Schraffuren in der Oberfläche des Holzes unterschiedlich. Zum Teil scheinen sich diese Linienverläufe in einem chaotischen Netzwerk zu durchkreuzen, damit die Form wie autistisch auf sich selbst zurück projizierend; in anderen Fällen drängen die Einkerbungen strahlenförmig über die Begrenzung des Objekts hinaus, um ein virtuelles Wachstum in den Umraum anzuzeigen. Die Grundgestalt der Skulptur kann den Polyeder zu Füßen der geflügelten Figur in Dürers „Melencholia“ assoziieren lassen. In dieser Radierung finden sich vielfältige Bezüge auf den Erkenntnis- und Forschungsdrang der Alchemie, die auch hier möglicherweise über das Blattgold und die Feuersspuren aufgenommen ist. Dem Streben das Alchemisten, eine mystische Formverwandlung herbeizuführen, gemäß, wurde der Baumstamm in der Bearbeitung durch den Künstler einer Veredelung unterzogen und als Kunstobjekt – als kristalliner Diamant – der natürlichen Vergänglichkeit entzogen.

Die Zentralgestalt des Ausstellungsraumes ist sicherlich die im vorderen Bereich aufragende „Barbara“, hier als Schutzpatronin der Bergleute eingebracht. Wie einzelne Blütenteile scheint diese sich aus dem Sockel zu erheben, dabei den Betrachter durch ihre Drehbewegung auf ständig wechselnde Ansichten ausrichtend. Statisch verharrende und dynamisch veränderliche Kräfte werden auch hier permanent einem Ausgleich zugeführt. Der Baumstamm ist mit der Motorsäge so bearbeitet, dass die einzelnen Segmente z.T. nur noch punktuell und höchst fragil miteinander verbunden sind. Die organische Kompaktheit des Stammes ist in eine feingliedrige Bewegungskette transformiert. Die ganze Holzoberfläche ist zudem mit harten, gegenläufigen Kerben und Schnitten durchfurcht, wodurch die Gewachsenheit des Stammes, sein natürlicher Verlauf kontrapunktiert werden. Hier artikulieren sich die Grundbedingungen des künstlerischen Schaffens von Karl Manfred Rennertz so wie es sich dialektisch in den Polaritäten Kraft/Masse, Raum/Zeit, Geometrie/Zufall, Willkür/Steuerung entwickelt. Die farbliche Gestaltung wird dann nicht ausschließlich gegenstandsbezeichnend eingesetzt. Die farblichen Markierungen erweitern die gegenständliche Lesbarkeit der einzelnen Körperstrukturen in Hinblick auf ein rhythmisches Wechselspiel plastischer Formbezüge.

Die bei der Darstellung des menschlichen Körpers aus der Unterscheidung von Stand- und leicht gebogenem Spielbein entstehende Körperhaltung ist seit der griechischen Frühklassik das Kennzeichen aller sich auf die abendländische Tradition berufenden Skulptur. Die Kontrapoststellung zielt auf einen harmonischen Ausgleich von Last und Gelöstheit, Ruhe und Bewegung. Wenn Rennertz diesen Grundvorwurf des Klassizismus in seiner monumentalen Plastik der „Barbara“ aufnimmt, und zugleich das im Kubismus angewandte Prinzip der Körperfragmentierung erprobt, gibt er einen bildhaften Kommentar zur Geschichte der Skulptur ab. Das Darstellungsmotiv der Skulptur steht für den Rückbezug auf die Tradition, die Form aber, von Rennertz mit der Kettensäge aus dem Holzstamm gewonnen, läuft diesem Bezug diametral entgegen. Die rohe Beschaffenheit der Oberfläche, die tiefen Kerben und Arbeitsspuren, die zahlreichen, teilweise bemalten Facetten verkehren den eleganten klassizistischen Vorwurf in eine anti-klassizistische Form.

Die Figurengruppe der „3 Säulen“ lässt sich sowohl architektonisch als auch figurativ ausdeuten, um damit auf anderer Ebene wiederum eine ambivalente Position zu besetzen. Regelmäßig in den Holzstamm eingebrachte Ritzungen vermitteln den Eindruck eines tektonischen Aufbaus aus ineinander geschichteten Teilstücken, die in ihrer Verankerung eine subtile Balance vertikaler und horizontaler Kräfte schaffen. Hier steht der Eindruck statischen Verharrens, einer sukzessiven Verfestigung im Vordergrund. Aus größerer Distanz betrachtet, scheinen die Säulen sich dann jedoch in unterschiedlicher Weise zu verhalten, vielleicht gar aufeinander zu reagieren und miteinander zu kommunizieren. Die Formen scheinen sich – atmend und pulsierend – aufzublähen, sich in einer subtilen Drehung aufzurichten oder aber sich leicht in den Raum hinein zu beugen. Die Bekrönung mit einer Art Kapitell entspricht zwar wiederum der architektonischen Konnotation, kann jedoch gleichzeitig als majestätische Kopfbedeckung einer wesenhaften, vermutlich menschlichen Gestalt verstanden werden.

Dieses Spannungsgefüge uneindeutiger Les- und Betrachtungsweisen wird in besonders eindrücklicher Weise manifest an der wiederum zweiteiligen Skulptur „Figur im Baum“, dem mit mehr als 5 m Höhe größten Objekt dieser Ausstellung. Hierzu hat Karl Manfred Rennertz den gewaltigen Stamm eines Mammutbaumes bearbeitet und geöffnet. Die Wirkung ist zunächst durch drei unterschiedliche Oberflächenbeschaffenheiten bestimmt: durch die weiche und sinnliche Anmutung der in Fasern verflochtenen Rinde, durch die eher glatte Schnittkante an der Innenseite des Stammes und durch die hier ausgehöhlten Körpersilhouetten, die durch die Schwärzung des Holzes mit Feuer eine weitere Akzentuierung erfahren haben. Die aus geometrischen Einzelformen definierten Gestalten wirken zeichenhaft verknappt, gewinnen aber aufgrund ihrer Größe und Monumentalität eine außerordentliche Präsenz, wenn sich diese auch nicht substantiell, eher schattenhaft aus einer Leerform bezieht. Die unterschiedliche Ausrichtung der einzelnen Körperteile lässt diese in ein dialogisches Verhältnis treten, als würden wir als Betrachter in eine Gesprächssituation eingebunden. In jedem Fall verstärkt sich durch die Setzung dieser Figurationen die außerordentliche Macht des ursprünglichen Baumstammes, der sich wie eine Urgewalt im Kontext der Industriearchitektur behauptet. Die ihm innewohnenden Kräfte scheinen sich hier zu personifizieren, wobei die Figuration letztlich ja auch die Zerstörung und Bannung der Lebenskräfte des Baumes mit sich gebracht hat. Geistige und körperhafte Energien, destruktive und formende Kräfte rücken offenbar in ein labiles Verhältnis. Wie das eine das andere zerdrücken und vernichten kann, so mag das je eine aus dem je anderen auch wieder eine besondere Ausdruckskraft, Zeit und Raum überdauernde Potenz beziehen.

Abschließen möchte ich mit einer kurzen Reflexion über die Symbolik, die mit dem Baum oder auch dem Wald herkömmlich verbunden ist, da sich diese doch im Schaffen von Karl Manfred Rennertz zu spiegeln scheint. Am Anfang einer nationalistisch gefärbten Aneignung des Waldes als Identitätssymbol der Deutschen steht der altrömische Historiker Tacitus bzw. dessen Interpretation durch die Mythenforschung des 19. Jahrhunderts. Als Jacob Grimm und andere Romantiker aus Mythen und Sagen eine verborgene Geschichte der Deutschen rekonstruieren wollten, erhoben sie Tacitus’ „Germania“ zum ältesten deutschen Geschichtsbuch. Hier wurzelt der mythologisch begründete Glaube, demzufolge die Germanen auf mysteriöse Weise den undurchdringlich dunklen Wäldern entstammen. In der Romantik wurde die „Waldeinsamkeit“ zum Ort der Muße und zum Symbol der menschlichen Eintracht mit der Natur. Die politische Waldsymbolik des 19. Jahrhunderts passte ausgezeichnet ins völkisch-politische Konzept der Nationalsozialisten. Der „Wald als Erzieher“ lautete der Titel eines Buches, welches eine Parallele zwischen Baum und Mensch, zwischen Wald und Volk entwickelte.
Hier zeigt sich, dass die Verknüpfung der Motive von Baum und Mensch, so wie sie von Karl Manfred Rennertz skulptural ins Werk gesetzt wird, kulturgeschichtlich tief verwurzelt und durchaus zwiespältig zu sehen ist. Der Künstler inszeniert jedoch keinen Zustand von Harmonie und unbedingter Versöhnung. Er visualisiert vielmehr ein Spannungsfeld, so wie es sich im Ineinanderwirken unterschiedlicher Lebens- und Wirkbereiche – zwischen Natur und Zivilisation, Technik und Kultur – gestaltet und ständig neue Disharmonien produziert. Diese gilt es aufzunehmen und auf eine Balance auszurichten, ein Prozess, der niemals abzuschließen und im Hinblick auf die Gegenwart immer neu auch kritisch zu reflektieren ist. Dieser in sich auch widerständige und widersprüchliche Reflektionsprozess ist Thema und Ausdruck der hier im industriegeschichtlichen Kontext ausgestellten Skulpturen von Karl Manfred Rennertz.